Liebe Mitwirkende und alle, die uns unterstützen,
liebe Freund*innen des Kalkbrennerei e.V.,
wieder liegt ein Jahr hinter uns und damit eine Zeit vielfältiger gemeinschaftlicher und kreativer Aktivitäten. Das Jahresthema „Wirklichkeiten – 100 Jahre Surrealistisches Manifest“ hatten wir diesmal im Zusammenspiel mit dem STRAZE e.V., Speicher_Leute e.V., strahlwerk, QUEER WIR HIER und dem Filmclub BLENDWERK gefunden beziehungsweise aus unterschiedlichen Vorstellungen fusioniert.
Bevor es jedoch an die Umsetzung von Veranstaltungen in diesem Rahmen ging, wurde im März das Stück „The Return of Ishtar“ der aktivistischen Theatergruppe Lovefuckers aus Berlin auf die Bühne des STiC-er Theaters in der alten Eisengießerei gebracht. Mit zwei Aufführungen konnte so ein sehr spannender Programmpunkt zum feministischen Thema des Vorjahres 2023 nachgeholt werden.
Außerdem wurde die von zahlreichen Anhänger*innen der sprühenden Künste gern genutzte Graffitiwand erneuert und an einem der Container auf dem Villa-Gelände angebracht.
Im Juni war die Ausstellung „Queere Surrealist*innen“ in verschiedenen Schaufenstern der Stralsunder Innenstadt zu entdecken. Felin Wiam von der Initiative QUEER WIR HIER hatte verschiedene Vertreter*innen der surrealistischen Kunst portraitiert, deren geschlechtliche Verortung oder sexuelle Orientierung nicht den gesellschaftlichen Normen entsprach. Ihr Schaffen sowie ihre oft von Diskriminierungserfahrungen geprägten Lebenswege wurden in kurzen Texten umrissen und zusammen mit Vincenz Kurze in eleganter Rollbildform gezeigt.
Im Juli und August war die Ausstellung in der Villa im Zusammenhang zu sehen, danach noch einmal in der STRAZE in Greifswald.Der Juli brachte uns mit einigen Mitstreiter*innen vom Speicher_Leute e.V. zu einer gemeinsamen Werkstattsituation zusammen, in der sowohl Plakatentwürfe für das Druckfestival in Loitz als auch experimentelle Drucke und Kollagen geschaffen wurden.
Die Lesung von Tobias Reußwig im Salon der Villa führte von ironisch-lakonischen Reflexionen auf die Absurditäten des Schriftstellerdaseins über poetisch-melacholische Kindheitsbilder bis in stroboskopische Kaskaden zersplitterter Erinnerungen.Im Anschluss warfen wir reihum unsere unzensierten Einfälle zu gemeinsam montierten Texten zusammen, der surrealistischen Methode des Exquisiten Kadavers folgend, um diese dann in bedeutungsschwangerer Eindringlichkeit zu proklamieren.
Im folgenden Monat war der Filmclub BLENDWERK wieder auf dem Gelände der Villa, um im Freiluftkino den Film „La Chimera“ der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher zu zeigen. Dieser poetische Streifen mit traumhaft-surrealen Elementen entführte ein zahlreiches und wohlgeneigtes Publikum in die abenteuerlich-prekäre Welt der Grabräuber*innen.
Im September, zum wieder einmal gut besuchten Tag des offenen Denkmals, wurde nicht nur die Villa selbst präsentiert, es fand außerdem ein Kunst- und Kreativmarkt unter freiem Himmel und strahlender Sonne statt. Zusätzlich wurde zu diesem Anlass die Ausstellung „Nachtgesichte“ von Benjamin Dalcke in der Beletage des Hauses eröffnet. Das Ensemble teils lebensgroßer plastischer und skulpturaler Figuren, ergänzt durch einige Grafiken, nahm für einen Monat die Räume ein und konfrontierte mit Assoziationen von religiösen Bilderwelten bis zu den Verheerungen des Krieges.
Noch im selben Monat versammelten wir uns in kleiner Runde zu einer surrealistischen Kollagenwerkstatt, die wegen sonniger Spätsommerlichkeit nach draußen verlagert wurde und zu einer teils sehr persönlichen Auseinandersetzung mit eigenen inneren Bildern wurde.
Der Oktober brachte eine interaktive poetische Performance mit Everest Girard in die Villa. Die Schriftstellerin hatte einzelne Textzeilen vorbereitet, die von den Teilnehmenden im freien, assoziativen Dialog miteinander sowie mit der Ausstellung „Nachtgesichte“ aufgegriffen und variiert wurden. Diese Veranstaltung im Rahmen von „Kunst unter Leute“ war so gut besucht, dass insgesamt drei Durchgänge stattfanden.
Begegnungen zwischen Synapsen und elektronischen Netzwerken wurden im November erprobt, eine von Tobias Reußwig geführte Reise durch kreative Schreibprozesse in Verbindung und Kollision mit künstlicher Intelligenz elektrisierte an sechs Tagen in der Stadtbibliothek die flackernd erleuchteten Schädelhöhlen.
Eine weitere Kooperation mit dem Filmclub Blendwerk schließlich ließ Visionen einer durch die Klimakatastrophe zerstörten Welt über das Publikum in der Kulturkirche St.Jakobi hereinbrechen. Anfang Dezember wurde dort zusammen mit dem Umwelt- und Klimaschutzbüro der Nordkirche der Film „ANNA – A Tale For Tomorrow“ von Jonathan B. Behr (2024) gezeigt. Der Regisseur war anwesend, im Anschluß an die Vorführung war er im Rahmen eines offenen Dialogs ansprechbar. So wurde auch hier der Bogen vom Phantastischen wieder zurück zu realen Wirklichkeiten gespannt.
Nach all diesen Exkursionen in nahe und ferne Bilderwelten, voll der Wunden und der Wunder, wirkmächtiger Unwirklichkeiten und hellwachen Traumwandlungen kehrten im November schließlich die Kollagen der Ausstellung „Meta“ von Marie Luise Schwab, die schon Teil des Vorjahresprogramms waren, in den Salon des Hauses zurück. Mit ihrem viele Bedeutungsebenen und Verknüpfungsmöglichkeiten aufspannenden Bildernetzwerk sind sie auch im Bezug auf das surrealistische Thema zuhause.
Die Methode der Kollage wurde auch von den Surrealist*innen immer wieder aufgegriffen. Durch die intuitive Neuverbindung von Bildern oder Textfragmenten entstehen Zusammenhänge, die sich nicht nur Gestaltungskonventionen entziehen, sondern tatsächlich an der bewussten Kontrolle der Ratio vorbeigeschleust werden können. So kann, besonders bei schnellem Arbeiten mit hohem Zufälligkeitsgrad, sich etwas unbewusstes manifestieren. Der poetischen Kraft und traumwandlerischen Sicherheit solch assoziativer Bilder- und Gedankenströme wurde weit mehr vertraut als den wohlkalkulierten Sichtweisen und Konstrukten des Bewussten, die, besonders nach den Erfahrungen des 1. Weltkrieges, als gescheitert betrachtet wurden. Vor diesem Hintergrund war die surrealistische Bewegung nicht nur an einer neuen künstlerischen Praxis interessiert, sondern strebte eine radikale Umwälzung der menschlichen Lebensrealitäten an, eine Wandlung ins Traumhafte, Magische, im besten Sinne Verrückte.
Dieser Anspruch sowie die automatisierende Methodik, die intuitive Gestaltungsweise sowie die vor allem literarischen Bezugsgrößen der surrealistischen Gruppe im Paris der 20er Jahre wurden 1924 von André Breton im ersten Manifest des Surrealismus formuliert.
Auch für das bereits angebrochene Jahr wird es ein vielfältige Auseinandersetzungen anregendes Sujet geben. In unserer Jahreshauptversammlung am 5. Januar haben wir uns das Thema des Eigentums erwählt. Grundlegend gesellschaftsprägende Gegebenheiten sind damit verbunden, es eröffnet spannende und kontroverse Möglichkeiten, da es aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, konzeptionell unterschiedlich aufgefasst und in vielfältigen sozialen Beziehungen untersucht werden kann.
Wir hoffen auch diesmal wieder auf rege Beteiligung, eure Positionen und Anregungen, wir freuen uns auf eure Beiträge und weiter auf gutes Zusammenwirken!
Text: Benjamin Dalcke
! Kreatürliche Grüße von eurem Kalkbrennerei e.V. !